Liebe Gäste
Es freut mich sehr, Sie heute im Namen von Claudia Vogel sowie den Gastgebern Sibylle Wittmann und Eckhart Holzboog willkommen zu heissen.
Ich denke, Sie haben sich schon ein wenig umgeschaut und festgestellt, dass die Ausstellung, die wir heute eröffnen, aus mehreren Teilen besteht. In der Remise wird eine Wand von drei grossen schraffierten Zeichnungen ausgefüllt, die speziell für diesen Ort geschaffen wurden. Ihnen gegenüber ist ein auf einem Monitor ein Video zu sehen und au einem Sockel stehen dort auch kleine Keramikobjekte. Im Treppenhaus des Hauptgebäudes schliesslich finden sich kleinformatige Zeichnungen von Menschen.
Auf den ersten Blick scheinen die Arbeiten nicht unmittelbar etwas miteinander zu tun zu haben, denn Format, Medium und Ausführung sind sehr unterschiedlich. Bei genauerer Betrachtung erkennt man jedoch, dass hinter den Arbeiten eine Fragehaltung steht, die – trotz der äusserlichen Unterschiedlichkeit – inhaltlich in die gleiche Richtung weist. Gerne möchte ich die genannten Werkgruppen im Folgenden einwenig charakterisieren und dabei Stück für Stück erörtern, welcher Zusammenhang meines Erachtens zwischen den Arbeiten besteht.
Körperzeichnungen
Lassen Sie mich mit den Zeichnungen hier in der Remise beginnen. Technisch betrachtet handelt es sich um Arbeiten aus Wachskreide auf Papier. Und was man zunächst sieht, sind schraffierte Flächen, die manchmal heller sind und sich an anderen Stellen zu beinahe schwarzen Zonen verdichten. Verläufe wechseln sich ab mit klaren Grenzen, die durch starke Hell-Dunkel-Kontraste charakterisiert sind. Insgesamt wirken diese Bilder ungemein plastisch. Es scheint fast, als würden sich die Formen aus dem Bild heraus und in das Bild hineinwölben.
Ein eindeutig definierbarer Bildgegenstand ist zunächst nicht zu erkennen, aber wenn Claudia Vogel ihre Ausstellung „Körperbilder“ nennt, ahnt man, worum es grundsätzlich geht. Tatsächlich nimmt die Künstlerin sich beim Arbeiten Ausschnitte ihres eigenen Körpers vor und schraffiert sie stark vergrössert ab. Als Betrachter möchte man natürlich gerne wissen, welche Ausschnitte genau auf den Bildern zu sehen sind. Doch die Art und Weise des künstlerischen Vorgehens verhindert eine vorschnelle begriffliche Definition.
In wochenlange Arbeit setzt die Künstlerin Schicht für schicht aufs Papier -aber nicht präzise und analytisch, sondern gestisch und schnell. Der einzelne Strich ist nicht so wichtig, der Prozess des Arbeitens selbst steht im Vordergrund. Mit Hilfe der Geste, die eine Spur auf dem Papier hinterlässt, versucht die Künstlerin, sich dem eigenen Körper anzunähern. Sie gräbt ihre Striche regelrecht ins Papier ein, so als wollte sie sich dadurch bis zum tiefsten Grund ihrer Existenz vorarbeiten. Doch eine letztendlich erfüllende Begegnung kommt nicht zustande. Das Rätsel bleibt. Stattdessen entsteht eine Form, die die suche des Künstlers sinnlich wahrnehmbar und für den Betrachter nachvollziehbar macht.
Claudia Vogel schickt das Auge des Betrachters also auf eine Entdeckungsreise: Es taucht in die grossen organischen Formen der Schwarzweisszeichnungen ein, vollzieht die plastischen Bewegungen, die Höhlungen und Ausbuchtungen, nach. Es kommt also im Anschauungsprozess zu einer „nachschaffenden Begegnung“ mit der dargestellten Körperlichkeit, die – dank der fehlenden Definition des Bildgegenstandes- aber zu keinem begrifflichen Ende führt.
Video: „Haus der Seele“
Für eine solche Leseart der Körperzeichnungen spricht auch das Video, das Claudia Vogel den Bildern gegenübergestellt hat. Man sieht darin Nahaufnahmen der menschlichen Haut: Poren und Falten, glatte Hautpartien, manchmal auch Haare. Aber wie auch die Zeichnungen zeigen die Bilder Ausschnitte, die sich fast nie eindeutig definieren lassen.
Mit einer Ausnahme: Klar erkennt man immer wieder ein Auge. Es handelt sich ganz offensichtlich um das Auge, das den eigenen Körper sieht, ihn aber zugleich als etwas Fremdes wahrnimmt. Der Text, der das Video begleitet bestätigt das. Er handelt von einer Frau, die ihr Gesicht im Spiegel betrachtet. Sie fragt nach der Herkunft der Spuren, etwa der Lachfalten. Warum gruben sie sich ein? Warum verspürte man keinen Schmerz, als das geschah? Und wie ist der Körper mit dem verbunden, was man gemeinhin als Seele bezeichnet?
Ich denke, jeder kennt dieses Fremdheitserlebnis bei der Betrachtung des eigenen Gesichtes im Spiegel aus seiner Kindheit oder Jugend. In der Hektik des Alltags und mit zunehmendem Alter gehen diese Fragen verloren. In ihrem Video konfrontiert Claudia Vogel den Betrachter auf neue Weise mit diesem Phänomen.
Aber sie geht noch einen Schritt weiter. Denn die Beobachterin in dem Video stellt fest, dass ihr selbst das eigene Auge fremd erscheint. Indem der Blick also auf das Organ gerichtet wird, das den Körper einerseits wahrnimmt und ihm andererseits selbst angehört, wird sowohl die Frage nach dem Verlauf der Grenze zwischen Aussen – und Innenwelt neu gestellt, als auch die nach der Rolle der Wahrnehmung in Bezug auf die Ergründung der eigenen Identität.
Installation „So entsteht die Welt“
Was die Sache noch komplizierter macht ist die Tatsache, dass es ja unendlich viele Menschen gibt und jeder Körper anders ist -in Grösse, Form, Gestalt, Geruch etc. Auch der Gang eines Menschen ist individuell- und kein Mensch vollzieht eine Geste au die gleiche Weise wie ein anderer. Dies verdeutlicht die Installation aus kleinen Keramikobjekten, die zwischen den grossen Zeichnungen und dem Video in der Remise zu sehen sind. Bei genauerem Hinsehen geben sich die kleinen stelenartigen Gebilde als Abgüsse von Labello -Stiften zu erkennen. Doch während die Deckel sich vollständig gleichen, schliessen die Stifte selbst nach oben ganz unterschiedlich ab. Manche sind abgeschrägt, andere haben in der Mitte eine Kerbe, wieder andere sind ganz flach.
Claudia Vogel hat für diese Arbeit Freundinnen und Bekannte gebeten, ihr jeweils ihre gebrauchten Labellos zur Verfügung zu stellen, um sie dann abzugiessen und zu brennen. Das Ergebnis ist eine Typologie der Gebrauchweisen: die individuelle Geste beim Auftrag des Balsams auf die Lippen hinterlässt eine unverwechselbare Spur auf dem Stift. Durch die künstlerische Transformation in ein keramisches Objekt erlangt diese Spur Dauerhaftigkeit und macht sie- dank der formalen Reduktion- mit den anderen vergleichbar. Der scheinbar triviale Gegenstand wird auf diese Weise zum Zeichen für eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten, die im individuellen Gestus ihren Ausdruck finden.
Menschen-Zeichnungen
Einen etwas anderen Aspekt verfolgt Claudia Vogel in ihren Menschen- Zeichnungen, die im Treppenhaus des Verlags zu sehen sind. Um Geld zu verdienen arbeitet sie immer wieder als Aufsicht in einem Kunstmuseum und hat dabei die Möglichkeit, viele sehr unterschiedliche Menschen zu beobachten und zu zeichnen. Die Skizzen entstehen im jeweiligen Augenblick, ohne dass die Künstlerin dabei auf das Papier schaut. Was bleibt ist also das, was die Hand macht, während das Auges sieht.
Meist bestehen die Zeichnungen aus nur einem oder wenigen Strichen. Manchmal wirken sie ein wenig überzeichnet, haben einen Witz, der an Karikaturen erinnert. Das wird aber nie forciert, sondern liegt in dem Anliegen begründet, innerhalb der nur sehr kurzen zur Verfügung stehenden Zeit, das Charakteristische des jeweiligen Menschen zu erfassen. Hier stellt sich für die Künstlerin also die Frage: Was für ein Typ Mensch ist das, den ich sehe? Was drückt sich in seiner Haltung aus?
Spannend erscheint mir dabei auch die Tatsache, das die Menschen, die die Künstlerin beobachtet, selbst ebenfalls etwas ansehen- nämlich die Bilder des Museums. Auch hier kommt also wieder das Auge ins Spiel, das als das Wahrnehmungsorgan im Bereich der Bildenden Kunst von der Künstlerin mitreflektiert wird. Im Falle der Menschen- Zeichnungen von Claudia Vogel ist es die Haltung der Menschen beim Hinschauen selbst, denen sie mit ihrer Arbeit auf der Spur ist. Das Auge der Künstlerin und ihre Hand werden dabei zu einem gemeinsamen Wahrnehmungsorgan für das „Fremde“, das sich in den Zeichnungen konkretisiert.
Abschluss
Sie sehen also: Claudia Vogel arbeitet in ganz unterschiedlichen Medien und Formten an einer komplexen Frage: Es ist die Frage nach der Identität- und damit verbunden nach der Individualität des Menschen: Was sagen die Lebensspuren, die Bewegungen, die Gesten und die Haltung eine menschlichen Körpers über sein Wesen aus? Und auf welche Weise nähert man sich ihm an?
Claudia Vogel macht deutlich, dass der versuch, die eigene oder eine fremde Identität rational ergründen zu wollen, scheitern muss. Stattdessen begeht sie- gemeinsam mit dem Betrachter -verschiedene Wege der sinnlichen Annäherung. Die grossen, gestisch erzeugten Körperzeichnungen gebendem Betrachter die Möglichkeit, sich auf eine Suche nah körperlicher Identität durch die Wahrnehmungsbewegung einzulassen. In dem Video stehen Fremdheitserlebnis gegenüber dem eigenen Körper und die Frage nach dem Stellenwert der visuellen Wahrnehmung im Vordergrund. In der Labello – Arbeit ist der Blick auf Fragen der Identität des fremden Körpers gerichtet. Und in den flüchtigen Skizzen von Menschen schliesslich werden Fragen der Identität bis hin zum individuellen Wahrnehmungsgestus verfolgt.
Eindeutige Antworten gibt Claudia Vogel also nicht. Stattdessen lädt sie den Betrachter ein, sich mit ihr auf eine gemeinsame Suche zu begeben. Ich wünsche Ihnen dabei viele spannende Entdeckungen.
@Winfried Stürzl